Dienstag, 27. November 2012

Shahinda Maklad + Gerhard Haase-Hindenberg : "Ich werde nicht zerbrechen"

Shahinda Maklad - Mit Gerhard Haase-Hindenberg:
"Ich werde nicht zerbrechen"
'Ein Frau auf dem Weg zum Tahirplatz. Wie ich nach der Ermordung meines Mannes weiterkämpfte'
2012, Bastei Lübbe Taschenbuch
Vorwort 1 Seite
35 Kapitel auf 320 Seiten
Nachwort des Co-Autors auf 3 Seiten
ISBN 978-3-404-60675-7

Gerhard Haase-Hindenberg hat in Gesprächen die Biographie der heute 73-jährigen ägyptischen politischen Aktivistin Shahinda Maklad (sie wurde im November 1938 geboren) aufgezeichnet und erzählt das intensive spannende Leben einer Frau die Ungerechtigkeiten in ihrem Ägypten ändern möchte.

Shahinda Maklad wuchs als Tochter eines Polizeioffiziers in bürgerlichen gebildeten Verhältnissen auf. Ihr Vater behandelte seine Töchter genauso auf Augenhöhe wie er seine Söhne. Islam als Religion ist für sie vorhanden, aber nichts was ihr Leben bestimmt.
Mit neun Jahren wird ihr von ihrem Cousin Salah erzählt (Sohn der Schwester ihrer Mutter), der sich Grundgrundbesitzern im Kamshish in den Weg gestellt hatte und dafür im Gefängnis gelandet war.
Die Verteilung des Grundbesitzes in Ägypten, wer was besitzen darf, wie die Gesetze umgangen werden und wer welches Land bearbeiten darf/muß wird zum leitenden Thema von Salah, dann Salah und Shahinda und nach Salahs Ermordung von Shahinda.
Sie setzt gegen den Willen ihrer Mutter eine Heirat mit Salah durch, gebiert drei Kinder und ist mit 27 Jahren Witwe. Als Kämpfernatur gibt sie nicht auf; das Begräbnis und auch Jahrestage der Ermordung ihres Mannes werden immer wieder Demonstrationen gegen Willkür in der Politik. Auch innerhalb der / ihrer sozialistischen Partei hat sie manchmal Fürsprecher, oft aber Gegenwind.
Ihre Familie hat wenig von ihr, aber als sie merkt, daß man versucht sie über ihre zwei Söhne zu erpressen, schafft sie es diese außer Landes zu bringen.
Im Jänner 2011 ist sie am Tahrirplatz unter den Aktivisten zu finden und diskutiert viel und leidenschaftlich mit der jüngeren Generation.

Spannend das Buch weil Frau Maklads Sichtweise Ägyptens und der Präsidentschaft von Anwar as-Sadat eine andere ist, als die via Friedensvertrag mit Israel in der Außenwelt transportiert war. Sadat war ein Freund der Großgrundbesitzer. Die Erzählungen unter seiner Präsidentschaft wie Parteien gegründet wurden, gefördert wurden, erlaubt wurden und dann wieder verboten wurden und mit Gefängnis bestraft wurden, muten unter dem Deckmantel von Demokratie seltsam an.
Überhaupt ist das Parteiengeflecht eigenartig: die Muslimbrüder sind war verboten, stehen aber nicht auf der Seite der Unterdrückten (böse Zungen behaupten, daß sie nicht einmal auf der Seite des Islam stehen), die Sozialistische Partei hilft auch niemanden, diverse von Sadat gegründete Parteien die die oppositionellen Meinungen auffangen sollen werden reglementiert. Nach der Ermordung Sadats geht das Regime eher strenger unter Präsident Mubarak weiter.

Die Kapitel erzählt chronologisch das Leben dieser starken Frau, jeweils am Ende sind aktuelle Zeilen über das Geschehen am Tahrirplatz im Jänner 2011. Der Leser/die Leserin muß selbst entscheiden, ob er/sie das Buch von Anfang bis Beginn wie gedruckt liest, oder lieber die Chronologie dieses Frauenlebens zuerst auf sich wirken läßt und dann die aktuellen Teile der Kapitel hintereinander liest.

Drei 'Verbesserungsvorschläge' habe ich für das Buch: eine Zeittafel die z.B. mit der Geburt von Frau Maklad startet und ihr Leben mit den Ereignissen in Ägypten ein zwei Spalten gegenüber stellt.
Das zweite ist ein Glossar von typischen Worten/Vokabeln Ägyptens, die Menschen aus anderen Kulturen erst nachsehen müssen. Und eine Karte Ägyptens auf der Kamshish, Kairo und Alexandria eingezeichnet sind - sowie die Regionen in die ihr Vater weit weg versetzt wurde - wäre auch erläuternd.

In Summe ein sehr empfehlenswertes Buch über eine starke Frau, das Nachdenken macht über Politik und Werte. Und ein Buch das bewußt macht, daß der Kampf um Demokratie im 'ägyptischen Frühling' noch nicht gewonnen ist.

Samstag, 17. November 2012

Sandor Márai : "Das Wunder des San Gennaro"

Sándor Márai :
"Das Wunder des San Gennaro"
Roman
original "San Gennaro Vére"
Nachlaß Sándor Márai
1997, Ujváry Griff Verlag, München
Aus dem Ungarischen übersetzt und mit einem Nachwort von Tibor Simányi
2004, Piper München Zürich
274 Seiten
1 Seite Widmungen an die Menschen in Posillipo
4 Seiten Nachwort und 1 Seite Biographie des Übersetzers
ISBN 3-492-27044-1

Das Buch ist kein Roman im Sinne einer logisch erzählten Geschichte, sondern erzählt in drei Kapiteln zuerst über die Menschen in Posillipo, über den Umgang mit Heiligen und erwarteten Wundern und dann von Flucht, Heimatlosigkeit und Erlösung.

Die Schilderungen im ersten Teil wie die Menschen in Posillipo leben, wie sie von bißchen Essen leben, wie sie mit Armut umgehen, aber auch wie sie zu handeln/feilschen vermögen sind schön gelungen. Fast duften die Mimosen des Frühjahrs dort durch das Buch. Die Schilderungen auch der arrivierten Menschen wie Anwalt, Bürgermeister etc. sind gut vorstellbar. Die Ruhe und Gelassenheit wie die Menschen dort Natur, Leben, Fischen, Trinken erleben, entschleunigen beim Lesen. Das fremde Paar ist zwar vorhanden, aber nicht das Hauptaugenmerk.

Im zweiten Teil wird viel von Glauben, Wunder, und wie mit den Heiligen verhandelt wird erzählt.

Im dritten Teil wird in langen Gesprächen enthüllt, warum der Mann des fremden Paares tot aufgefunden wurde.
Zuerst erzählt ein Polizist der viel mit Flüchtlingen zu tun hat seine Gedanken und Gespräche. Er enthüllt den Kampf der Exilanten um die Akzente ihres Namens (für einen Italiener sind die Hackerln über Vokalen und Konsonanten aus Sprachen wie z.B. Ungarisch, Tschechisch und Polnisch vermutlich höchst anstrengend). Er kannte den toten Mann aus Gesprächen - als intelligenten gebildeten Mann, der außerdem ein Visum nach Australien erhalten hatte.
Dann ist ein Priester im Gespräch mit dem Polizeichef - auch er hatte intensive Gespräche mit dem Toten erlebt. Der Mann hat am Ende des Lebens fast einen Ruf als Heiliger gehabt, der Wunder vollbringen könnte und zu dem alle gekommen waren. Mit dem Priester hatte er viel über Erlösung gesprochen, über die Erwartungen an Heilige, über das Leben des Franziskus von Assisi und ob so ein Leben im 20. Jahrhundert möglich wäre.
Das letzte Gespräch findet zwischen der Lebensgefährtin des Mannes und einem x-beliebigen Priester statt. Sie erzählt von der Flucht, den dem nicht mehr leben können wenn man rundherum die Repressalien mitkriegt, auch wenn persönlich noch alles gut läuft. Sie erzählt wie man langsam aber sicher die Identität verliert auf der Flucht - bei jeder Übersiedlung geht etwas mehr von verloren. Sie erzählt wie sie beide in Assisi wieder das Leben spürten, aber auch klar wurde, daß der Mann einen anderen Weg als die Frau gehen würde.

Das Buch ist nicht einfach zu lesen, sondern hat bei mir einiges an Konzentration und Vorstellungsvermögen gefordert. Die Schilderungen im ersten Teil und die Dialoge im dritten Kapitel haben mich stark berührt.

Es ist auch ein politisches Buch, denn es fragt an warum für so viele Menschen klar war, daß der Nationalsozialismus wie er im dritten Reich gelebt wurde, unmenschlich und verbrecherisch war, aber diese Bewertungen nicht für den Bolschewismus galten. Hier hatte man noch versucht eine Menschlichkeit zu erkennen, die es längst nicht mehr gab.

In Summe ist das Buch sehr empfehlenswert, weil es helfen kann die Probleme der Nachkriegszeit in Europa zu verstehen, die Probleme von Menschen in Exil zu sehen und sehr gut geschrieben ist.

Sándor Márai wurde 1900 in Kauschau (heute Slowenien) geboren, er verließ 1948 Ungarn und lebte mit Frau und Adoptivsohn danach bei Posillipo bei Neapel. Hier schrieb er vermutlich "Das Wunder des San Gennaro", das der Autor in Amerika Mitte der 60-er im Eigenverlag publizierte. Er schrieb alle seine Bücher im Exil auf ungarisch. Später wanderte die Familie nach Amerika aus, wo Márai 1989 in San Diego durch Selbstmord verstarb.

Der Übersetzer Tibor Simányi wurde 1924 geboren, war Verlagslektor, Rundfunkredakteur, Übersetzer und Buchautor. Eines seiner Bücher ist der Briefwechsel zwischem ihm und Sándor Márai.

Donnerstag, 8. November 2012

Sabina Berman : "Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte"

Sabina Berman :
"Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte"
original "La mujer que buceó dentro del corazón del mundo"
2010, Ediciones Destino, Barcelona
aus dem Spanischen von Angelica Ammar
2011, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt
299 Seiten
ISBN 978-3-10-021609-9

Der verzaubernde Roman in dem wunderschönen türkisblauen Umschlag erzählt von einer jungen Frau, die erst durch Zuneigung/Zuwendung ihrer Tante mit ihrem Autismus umgehen lernt und aus dieser Sicht das Meer, das Leben (und Vernichten) von Thunfischen kennen und lieben lernt. Eine wunderbare Geschichte, die in Bann zieht und trotz Fischtötens verzaubert.

Karen wird von ihrer Tante Isabell in einer ererbten Haus in Mexiko im Keller gefunden. Sie bemüht sich der bereits jugendlichen Sprechen beizubringen, ihre Denken zu formulieren und mit Menschen trotz ihres Autismus so normal wie möglich umzugehen.
Tante Isabell ist die Eigentümerin mehrerer Thunfischfabriken, und ermöglicht ihrer Nichte diese anzusehen. Sie entdeckt dort ihre Liebe zum Tauchen und Mitschwimmen mit den Fischen.
Mit ihrer Empathie für Tiere, Ausschalten von Verständnis für menschliches Denken und Fühlen gemischt mit sehr logischem Denken entwickelt Karen Methoden die Thunfischfischerei schonend für Delphine und relativ streßfrei für die zu tötenden Thunfische zu entwickeln. Es gibt Rückschläge, aber aufgrund von superreichen, entsetzlich verwöhnten Sushi-fans plötzlich riesige Erfolge zu verzeichnen. Die Naturschützer schlagen zu und sie entwickelt die Idee vom Paradies für Fische - sehr zum Mißfallen ihrer Geschäftspartner, die nicht ihre Erlebnisse im Meer und mit den Fischen teilen (können).

Der Roman ist in Ich-Form geschrieben. Da das erste Wort, das Karen lernte Ich ist bedeutet es sehr viel für sie. Es ist faszinierend wie sie beschreibt wie sie mit den Menschen und deren oberflächlichen Ausdrucken umgeht; fast witzig wenn sie beschreibt wie sie lernt was welcher Gesichtsausdruck heißen soll und lernt diese Gesichter zu kopieren, um sich mit nicht-autisten leichter zu tun.

Kares Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und Philosphie hat ganz eigene kognitive Zugänge. Descartes empfiehlt sie zu verbrennnen; viel hält sie von Darwin - der vermutlich wie sie und auch Einstein ein Autist gewesen sein dürfte.

Schön sind die Beschreibungen wie sie im Meer schwimmt, mit den Thunfischen Nase-schubsen spielt, und wie sie die Tiefe des Meeres wahrnimmt.

Ich habe das Buch sehr genossen und kann es Lesern und Leserinnen, die ein Gefühl für Zauber, das Meer, und auch andere Gedankenansätze zu arrivierter Philosophie vertragen nur sehr empfehlen. Achtung: Leser taucht gedanklich fast mit !